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gegen: Bewegungen durch Goethes “Der Mann von funfzig Jahren”

from Special Section on Goethe and the Postclassical: Literature, Science, Art, and Philosophy, 1805–1815

Published online by Cambridge University Press:  14 March 2018

Markus Wilczek
Affiliation:
Harvard University
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Summary

I. Gute Unterhaltung: Vom Begegnen zum Gegeneinander

DER VOLLZUG GEMEINSAMER LEKTÜRE, so legen die Phantasmen des europäischen kulturellen Gedächtnisses nahe, bleibt selten unschuldig. Wenn ein Liebespaar zu lesen beginnt, kommt es leicht zum gefährlichen Übersprung zwischen Poesie und Leben, im Zuge dessen die Lektüre ein Ende und etwas anderes seinen Anfang nimmt. Das Lesen etwa, von dem Fran cesca im fünften Gesang von Dantes Commedia berichtet, illustriert modellhaft die “Gewalt, die Bücher über Körper haben,” aber eben auch das “Erlöschen der Wörter,” in dem das Buch beiseite gelegt wird. In der Lektüre selbst ist schon ihr Ende programmiert, gerade dort, wo die Lektüre besonders intensiv wird, bricht sie auch schon wieder ab.

In einem programmatischen Exorzismus hat Friedrich Kittler die Dantesche Szene mit der berühmten “Klopstock!”-Episode aus Goethes Werther kontrastiert, um die Verin nerlichung der Lektüre entlang der Leitdifferenzen laut/leise, Körper/Seele, Text/Autor als eine Grundchiffre des 18. Jahrhunderts zu etablieren. Über den Differenzen aber, die Kittler mit vollem Recht benennt, gerät außer Fokus, dass beide Szenen schließlich doch darin übereinstimmen, dass sie eine Begegnung der Liebenden ermöglichen und inszenieren. Gleich, ob die Paare zueinander finden, indem die gemeinsame Performanz ihrer Lektüre einen Fluchtpunkt erreicht, oder die bereits verinnerlichte Lektüre nurmehr über das Ausrufen des Autornamens aktuali siert wird: beide Male kommt die Bewegung der Lektüre bzw. des Imaginierens in der Begegnung der Körper oder Blicke zum Stillstand.

Indessen überrascht es nicht, dass in Goethes Textuniversum neben Charlotte und Werther noch weitere, auf andere Weise eigenartige Leser beheimatet sind. Etwa im Achten Buch von Wilhelm Meisters Lehrjahren, in dem Friedrich von einer besonders kuriosen Form der Lektürepraxis berichtet:

Philine habe, so eröffnet Friedrich seinem Freund Wilhelm, der ihn nach dem Grund seiner “ausgebreitete[n] Gelehrsamkeit” gefragt hatte, den “herrlichen Einfall” gehabt die sämtlichen Bücher auf einem großen Tisch aufzuschlagen, wir setzten uns gegeneinander und lasen gegeneinander, und immer nur stellenweise, aus einem Buch wie aus dem andern. Das war nun eine rechte Lust! wir glaubten wirklich in guter Gesellschaft zu sein, wo man für unschicklich hält irgend eine Materie zu lange fortsetzen, oder wohl gar gründlich erörtern zu wollen. Wir glaubten in lebhafter Gesellschaft zu sein, wo keins das andere zu Wort kommen läßt. Diese Unterhaltung geben wir uns regelmäßig alle Tage, und werden dadurch nach und nach so gelehrt, daß wir uns selbst darüber ver wunderten.

Type
Chapter
Information
Goethe Yearbook 17 , pp. 223 - 238
Publisher: Boydell & Brewer
Print publication year: 2010

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