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Vom wahren Weg: Eine Respondenz

Published online by Cambridge University Press:  03 May 2023

Stephen D. Dowden
Affiliation:
Brandeis University, Massachusetts
Meike G. Werner
Affiliation:
Vanderbilt University, Tennessee
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Summary

ALS ICH DIE AUFGABE ÜBERNAHM, hier auf Christoph Königs Vortrag über Ludwig Geiger und (wie ursprünglich auch vorgesehen) Michael Bernays zu respondieren, erinnerte ich mich an meine Geschichtslehrerin am Staatlichen Gymnasium von Haifa. Sehr deutlich sehe ich auch heute noch, wie die zierlich wirkende Dame im langen braunen Rock beim Sprechen über Strömungen im deutschen Judentum des neunzehnten Jahrhunderts plötzlich Züge einer mythologischen Furie annahm. Mit donnernder Stimme ließ diese Schülerin Gershom Scholems an den Ansichten von Leopold Zunz, Moritz Steinschneider und Abraham Geiger nichts, aber auch gar nichts gelten. Nicht nur hatten diese allzu gebildeten Wissenschaftler das Judentum nie richtig verstanden, sondern ihr Weg hatte, wenn nicht direkt, so doch zumindest über einige unwesentliche Umwege zum Niedergang des europäischen Judentums, ja gar zur Reichspogromnacht geführt. Das Werk dieser falschen Propheten einer gefährlichen Wissenschaft, dieser Vertreter einer fraglichen Reformbewegung, sei Teufelswerk gewesen und trage Schuld an beinahe allen historischen Folgen.

Solche Urteile dürfen niemanden wundern. Liest man, wie sich Gershom Scholem selbst über die Schriften von Moritz Steinschneider und Leopold Zunz äußert, so fällt sofort der dialektische Charakter, die eigentümliche Mischung aus Bewunderung und Abneigung, aus Hochschätzung und Verachtung, die seine Position bestimmen, auf. “Wie viel Kälte herrscht in diesen Wissenspalästen. Beim Lesen dieser Werke meint man plötzlich das Antlitz der Medusa erblickt zu haben. Etwas vollkommen Unmenschliches schaut einen an, und läßt durch Halbsätze und Nebenbemerkungen das Herz versteinern.”

Die Erinnerung an meine Lehrerin ließ mich neugierig in der ha’Enzykolpedia ha’iwrit, der großen hebräischen Enzyklopädie, nachschlagen. Unter dem Stichwort Ludwig Geiger las ich folgendes: “Ludwig Geiger. Literatur- und Kulturhistoriker … war ein extremerAnhänger der Assimilation (mitbolel kitzoni) und sein Hauptziel war es, die wissenschaftliche und gesellschaftliche Anerkennung der deutschen Gesellschaft … zu erlangen.” Michael Bernays wird in der Enzyklopädie nur unter dem Stichwort Jizchak Bernays erwähnt, nämlich als der zum Christentum übergetretene Sohn des großen Hamburger Rabbiners.

Was mag zu solchen Bewertungen geführt haben? Wie dürfen sie im Hinblick auf den literarischen Kanon dieser Gelehrten verstanden werden? Und worauf deutet der jeweilige Kanon zwei der bedeutendsten Philologen jüdischer Herkunft in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts? Ich möchte bereits jetzt eine vorläufige Antwort auf diese Fragen wagen, um diese im folgenden ausführen zu können. Ich möchte argumentieren, daß im jeweiligen Kanon dieser beiden Gelehrten ein charakteristisches Spannungsverhältnis zwischen Erinnern und Vergessen, Bewahren und Verdrängen, Lernen und Verlernen aufscheint.

Type
Chapter
Information
German Literature, Jewish Critics
The Brandeis Symposium
, pp. 79 - 86
Publisher: Boydell & Brewer
Print publication year: 2002

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