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Lehrstückspiel nach Brecht: Hinweise für Spielleiter
Published online by Cambridge University Press: 14 June 2023
Summary
Der Titel dieses Aufsatzes bedeutet zweierlei: erstens “Lehrstückspiel heute” und zweitens, dass dieses Genre, also “Spielen für sich selber,” zwar immer von Bertolt Brecht inspiriert ist und auf der Basis eines seiner Lehrstücke oder Lehrstückfragmente stattfindet, dass aber in der Regel durch die aktuelle Ausführung auch eigene Akzente gesetzt werden. Zehn Jahre nach meiner Untersuchung der Lehrstück-Theorie begann ich, eine eigene Form des Lehrstückspiels zu entwickeln, nachdem andere (u.a. Gerburg de Atencio, Paul Binnerts, Scotch Maier, Willy Praml, Hans Martin Ritter, Ingo Scheller, Andrzej Wirth) schon vorher eigene Wege gefunden hatten. Das fand nach einer ersten gemeinsamen Experimentierwoche in Ovelgönne, die zu weiteren Lehrstückansätzen geführt hatte (u.a. von Gerburg de Atencio, Gerd Koch, Bernd Ruping, Florian Vaßen), im Rahmen eines von der Berghof Stiftung für Konfliktforschung geförderten Forschungsprojekts “Jugend und Gewalt” statt, das ich gemeinsam mit den Pädagogen Wolfgang Heidefuß und Peter Petsch durchgeführt habe. Die in diesem Projekt entwickelten Fragestellungen und Methoden, mittels Lehrstückspiel eine handlungsorientierte Gewaltreflexion in kleinen Gruppen zu ermöglichen, entstanden also im Rahmen der Friedens- und Konfliktforschung bzw. der Friedenserziehung. Dem Projekt lag der Befund zugrunde, dass alle Lehrstücke von Brecht um Gewalt, Unterdrückung und Zwang kreisen, also eine Auseinandersetzung der Spieler*innen mit dieser Thematik geradezu erzwingen— auf der Reflexionsebene, vor allem aber auf der Ebene der Haltungen, die in gewaltträchtigen Situationen eine zentrale Rolle spielen. Das bedeutet nicht, dass man beim Lehrstückspiel nicht auch andere Akzente setzen könnte. In vermutlich allen Lehrstückansätzen nach 1978 aber geht es um Empowerment, Selbsterfahrung in Gruppen und kritische Selbstreflexion.
Das Spiel entfaltet sich in meiner Methode (Wolfgang Heidefuß und Peter Petsch haben ihre eigenen Methoden gefunden) in immer neuen Variationen, wobei der Text nicht auswendig gesprochen, sondern vom Blatt gelesen wird—ein Anflug von Verfremdung, die Brecht ja neben der Einfühlung in die Figuren auch für das Lehrstück gefordert hat (BzL 164, 172) und zugleich die Bedingung dafür, dass Menschen ohne jede Schauspielausbildung an einem solchen Kurs problemlos teilnehmen können.
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- The Brecht Yearbook / Das Brecht-Jahrbuch 46 , pp. 220 - 237Publisher: Boydell & BrewerPrint publication year: 2021