Das mittelniederdeutsche Versepos Reynke de vos (R), das 1498 von der Mohnkopfdruckerei in Lübeck gedruckt wurde, bildet das Ende einer stattlichen Anzahl mittelalterlicher Übersetzungen und Bearbeitungen des berühmten niederländischen Versepos Van den vos Reynaerde aus dem 13. Jahrhundert. Der Reynke ist die Übersetzung und Bearbeitung einer mittelniederländischen Vorlage, die als solche nicht erhalten ist, die aber ihrerseits in ein Geflecht von Überlieferungen und Bearbeitungen einzuordnen ist. Zahlreiche Abschriften, Übersetzungen und Bearbeitungen des Van den vos Reynaerde entstanden bis in die heutige Zeit. Einen regelrechten Boom erlebte die Reynaert-Epik jedoch im 15. Jahrhundert, vor allem im letzten Viertel des Jahrhunderts. Fragmente einer Handschrift des Van den vos Reynaerde, die erst 1971 wiederentdeckt wurden, werden auf das Ende des 15. Jahrhunderts datiert. Die lateinische Übersetzung des Epos, Reynardus vulpes, die zwar bereits vor 1279 entstand, ist in einer Inkunabel aus dem Jahre 1474 erhalten. Mit Reynaerts historie (R II) entsteht spätestens zu Anfang des 15. Jahrhunderts eine bearbeitete Fassung, die erhaltenen Textzeugen stammen wiederum aus späterer Zeit: eine vollständige, aber sehr fehlerhafte Handschrift von etwa 1470 (B) und ein Fragment aus dem Jahre 1475 (C) sind von diesem Werk erhalten. Bei Reynaerts historie wurde der erste Teil des Van den vos Reynaerde leicht verändert und eine zweite Prozeßhandlung hinzugefügt.
Die Bearbeitungen aus dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts kann man in Prosa- und Versbearbeitungen einteilen. In Prosa erschien eine niederländische Inkunabel, gedruckt 1479 bei Gheraert Leeu in Gouda, und die englische Übersetzung von William Caxton, die 1481 erschien und 1489 nachgedruckt wurde. Beide Texte sind nicht illustriert und sollen im folgenden nicht berücksichtigt werden. Wichtig für die folgenden Überlegungen ist eine Bearbeitung von Reynaerts historie, eine gedruckte Versfassung Reynaert III (= R III), versehen mit Titeln, Prosakommentaren und Holzschnittillustrationen, von der nur Fragmente erhalten sind, die sogenannten “Culemannschen Bruchstücke.” Diese Fassung erschien zwischen 1487 und 1490 bei Gheraert Leeu in Antwerpen. Erhalten sind sieben zum Teil beschädigte Blätter mit 223 Versen sowie vier Holzschnitte, von denen einer doppelt erscheint.
Die niederdeutsche Inkunabel Reynke de vos (R) geht über Zwischenstufen zurück auf diese nur fragmentarisch erhaltene Versinkunabel. Der niederdeutsche Text ist eingeteilt in vier Bücher, versehen mit neuen Prologen und Prosakommentaren, und illustriert mit 89 Abbildungen, von denen 36 Wiederholungen sind. Man hat es also mit 53 verschiedenen Illustrationen zu tun. Von den “Cambridge Fragments” sind nur drei verschiedene Holzschnitte und wenige