9 - Weiblicher Sadismus, Wutwelt des Liebes-Urwalds, Geschlechtskampf, absolutes Gefühl: Die Penthesilea-Rezeption in der Moderne
Published online by Cambridge University Press: 14 February 2023
Summary
Kleist Ist Ein Autor, der bekanntlich erst in der klassischen Moderne, also zwischen 1880 und 1930, Anerkennung gefunden hat. Dass große Autoren der deutschen Moderne wie Franz Kafka, Rainer Maria Rilke, Robert Walser, Georg Heym, Hans Henny Jahn, Hugo von Hofmannsthal, Arnold und Stefan Zweig, Frank Wedekind und Thomas Mann zu den Bewunderern Kleists zählten, haben Helmut Sembdner und Peter Goldammer eindrucksvoll dokumentiert. In Kleists eigener Zeit dagegen wurde außer dem Käthchen keines seiner Dramen positiv rezipiert, ja die meisten wurden noch nicht einmal aufgeführt. Symptomatisch für die historisch veränderte Konjunktur von Kleists Dramen ist Penthesilea. Nachdem zu Kleists Lebzeiten Penthesilea nur als Pantomime auf die Bühne kam und die Uraufführung erst 1876 stattfand (wobei die Bearbeitung von Mosenthal stark verändernd in den Text eingriff), begann gegen Ende des 19. Jahrhunderts Kleists Penthesilea nicht nur ihre Bühnenkarriere und wurde innerhalb weniger Jahrzehnte zu einem oft gespielten und heftig diskutierten Stück des Autors, sondern Penthesilea inspirierte auch Künstler in anderen Medien. 1883 schuf Hugo Wolf die symphonische Dichtung Penthesilea; 1925 vollendete Othmar Schoeck seine Oper Penthesilea, die 1927 uraufgeführt wurde — sie gilt als die modernste Schöpfung des ansonsten eher konservativen Komponisten. Und die Anfang des 20. Jahrhunderts erschienenen ersten illustrierten Ausgaben der Penthesilea demonstrieren, dass der Text eine Vielfalt von Interpretationen in diversen visuellen Medien und Stilen inspirierte.
Da sind Kurt Tuchs ironisch-amüsante Aquarelle von 1910, die den Kontrast zwischen weiblicher Schönheit und weiblicher Gewalt, männlichem Begehren und männlicher Angst, zwischen Idylle und Tragödie sowie Kampf und Erotik sozusagen anti-Kleistisch als leicht zu goutie rende Comics mit allerdings tödlichem Ausgang darstellen (vgl. Abb. 1). Sie sind leicht zu goutieren, weil ihnen jegliche Schärfe und Tragik abgeht und weil sie traditionelle Vorstellungen von Weiblichkeit durch den amazonischen Kontext eher pikant-ironisch verstärken als in Frage stellen.
Im Gegensatz zu Tuchs Komik evozieren Richard Seewalds Lithographien von 1917 die immense Energie und Zerstörung von Krieg und Gewalt durch diagonal entgegengesetzte oder auseinanderstrebende, schwarz akzenturierte Linienführung; besonders die expressionistisch zu bedrohlichen Kriegsmaschinen überhöhten Elefanten lassen an die mo derne Kriegsführung mit Panzern denken (vgl. Abb. 2). Hier wird auf eine bis dahin marginalisierte literarische Figur eine Generationenerfahrung projiziert: Penthesilea wird von perhorreszierter Gewalttäterin zur tragischen Identifikationsfigur, die zwar schreckliche Gewalttaten verübt, doch selbst wiederum als Opfer einer Kriegsmaschinerie kenntlich wird.
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- Heinrich von Kleist and Modernity , pp. 145 - 166Publisher: Boydell & BrewerPrint publication year: 2011