Mag das Formenspektrum des deutschsprachigen Gegenwartstheaters ein sehr reichhaltiges sein, so hat der Tod Christoph Schlingensiefs im Jahr 2010 doch eine empfindliche Lücke hinterlassen. Seine teilweise an die Performancekunst grenzenden Theaterprojekte waren gekennzeichnet von einer Unberechenbarkeit und Direktheit, die, nicht zuletzt durch seine regelmäßige persönliche Beteiligung am szenischen Geschehen, wohl einzigartig bleiben werden. Die immer sichtbare politische Motivation seiner Projekte und deren Provokationspotential und Originalität hat ihn in den letzten Jahren seines Schaffens als Künstler und Regisseur zu einer Reizfigur in der deutschen Öffentlichkeit gemacht, die Begeisterung und Bewunderung, aber auch Spott, Anfechtung und Verständnislosigkeit hervorrufen konnte. Eine theatergeschichtliche (und filmgeschichtliche) Einordnung seines Werks ist längst fällig und bislang nur in wenigen Ansätzen erfolgt. Inzwischen aber ist die Rezeption immerhin in eine Phase übergegangen, in der mehr und mehr monografische und damit ausführlichere Beiträge entstehen. Mit dem Buch von Anna Teresa Scheer liegt nun auch eine erste solche Abhandlung auf Englisch vor, die sich dem Künstler alleine widmet.
Das Buch ist erkennbar für eine internationale Leserschaft geschrieben und konzentriert sich auf Schlingensiefs theatrales Schaffen seit Mitte der 1990er Jahre. Angaben zur Biografie sind auf eine Seite begrenzt: Erwähnt wird, dass er als Einzelkind den Wunsch seiner Eltern nach fünf weiteren Geschwistern kompensieren musste und in der Familie schon früh Umgang mit der Super 8-Kamera hatte, was, wie seine langjährige Bindung an die Katholische Jugend und die Ministrantentätigkeit auch, immer wieder als Ursachen für seine virtuosen Selbstinszenierungen und sein Spiel mit liturgischen Formen diskutiert worden ist—auch von ihm selbst. Damit ist auf die sich mit diesen Anknüpfungspunkten ergebende Möglichkeit einer biografischen Werkdeutung hingewiesen, mehr aber auch nicht, denn Scheer verzichtet auf jede weitere Ausarbeitung dieser Lesart. Zufällig beeinflusst wurde seine künstlerische Tätigkeit allerdings durch seine Herkunft, denn der Geburtsort Oberhausen ist zugleich Schauplatz der 1954 begründeten jährlichen Internationalen Kurzfilmtage, einem Konzentrationspunkt der filmischen Avantgarde in Deutschland. Deren Protagonisten, Regisseure wie Rainer Werner Fassbinder, Alexander Kluge, Wim Wenders oder Werner Herzog, begründen in den 1960er und 1970er Jahren den sogenannten Neuen Deutschen Film. Schlingensiefs frühes Interesse für dieses Medium knüpft hier an. Ein akademisches Studium hat er nicht durchlaufen: Auf ein abgebrochenes geisteswissenschaftliches Studium in München folgen lediglich zwei gescheiterte Bewerbungen für einen Platz an der dortigen Hochschule für Fernsehen und Film.