Der Kontext
IN SEINER LITERATURGESCHICHTE des Liebesverrats kommt Peter von Matt auch auf Gottlieb August Bürgers Ballade von Des Pfarrers Tochter von Taubenheim zu sprechen, die 1782 im Göttinger Musenalmanach erschienen ist. Die 38-strophige Ballade behandelt das Schicksal einer Kindsmörderin, die doch selbst ein Opfer ist—ein zweifaches Opfer gar: Einmal eines ga lanten Verführers, der ihr das Blaue vom Himmel versprach, und dann eines sittenstrengen Vaters, der seiner Tochter eine Moral einzubleuen suchte, die Tugend mit Unschuld verwechselte. Das war der Stoff, aus dem heute noch soap operas oder Schlager fabriziert werden. Wenn diese Schlager dann im Radio oder bei MTV gespielt werden, heißen sie tatsächlich wieder Balladen. Bürgers Ballade war “sex und crime der Jahrmarktsänger,” ein Text von dröhnender Selbstgefälligkeit, der sich zuletzt auch noch mit einer bigotten Religion arrangiert, die dem verführten Mädchen allein die Schuld an allem in die Schuhe schiebt. Aber die Ballade hat auch ihre großen Stellen, wenn sie mit fast soziologischer Präzision die Fatalität eines Liebesvertrags skizziert, der unter ungleichen Partnern eingegangen wird und daher keine Gültigkeit beanspruchen dürfte—die Beschränktheit der bürgerlichen Sphäre und die Hartherzigkeit der galanten Welt findet in Bürgers Sprache, die sich beiden Idiolekten anzuschmiegen weiß, Ausdruck und Überzeugungskraft. Bürgers Ballade ist in ihrem aufflackernden Zorn, der vibrierenden Empörung über die Ungerechtigkeit der Welt, die so etwas geschehen lässt, ein durchaus repräsentativer Ausdruck jener vorrevolutionären Epoche, die sich von den kommenden Jahrzehnten eine radikale Veränderung der Verhältnisse erwartete, bei der gerade der Literatur eine dominierende Bedeutung zukomme. Davon zeugt auch Bürgers Lenore, die Ballade von der Gespensterbraut, deren onomatopoetische Genialität—“ein Gedicht ist ein Ritt, ein Ritt wird zum Gedicht” (Matt 106)—sie zu einem der seltenen überzeugenden Beispiele phantastischer Lyrik macht. Bürgers Lenore hat nicht nur Goethes Erlkönig genauso wie seine Braut von Korinth inspiriert, sondern dürfte durch die Übersetzung von Walter Scott wohl auch maßgeblich Samuel Taylor Coleridges Cristabal (1797) beeinflusst haben.
Eine Literatur, die dermaßen wirkt, die geradezu einzuschlagen versteht, ist mit den Worten von Matts “ein derbes, handfestes Stück Literatur, […] eine einfache Sache, greifbar und deutlich. Abschließend auslegen kann man sie, und man muß zuletzt nicht mit Gesten der Resignation zum Ausdruck bringen, wie viel mehr noch an der Sache wäre und wie unerschöpflich sie im Grunde sei. Diese Dichtung ist erschöpflich. Das macht sie sympathisch. Man hüte sich, sie zu verachten” (Matt 106).