Die Bewertung der deutschen Novelle als eigengesetzliche Kunstform ist noch immer umstritten, da die Fülle von Theorien, die ihren Entwicklungsgang begleiten, bei manchem Forscher den Eindruck hinterlassen haben, als sei sie nur eine kürzere und individuell wandelbare Spielart der hohen Epik. Sie übersehen dabei, daß die Kernsätze jener theoretischen Erörterungen bei allen scheinbaren Widersprüchen nur verschiedene Seiten der Novellenkomposition beleuchten und für die Scheidung der Novelle von andern epischen Formen ihre Gültigkeit bewahren, wenn man ihren persönlichen und zeitbedingten Gehalt mit berücksichtigt. Goethes betrachtendes Auge ruht auf dem Inhalt, wenn er die Novelle nichts anderes “als eine sich ereignete unerhörte Begebenheit” nennt. Tiecks romantisch-ironische Vielseitigkeit fügt den “überraschenden Wendepunkt” als Wesensmerkmal des Ablaufs einer solchen mehr oder weniger wunderbaren Begebenheit hinzu. Heyses technische Virtuosität prägt den Begriff der “Silhouette” für ihren äußeren Umriß und entlehnt von Boccaccios Novelle den “Falken” als Symbol für ihren kompositorischen Kern. Wenn der nachdenklichgrübelnde Storm die Novelle als “die Schwester des Dramas und die strengste Form der Prosadichtung” bezeichnet, die “gleich dem Drama die tiefsten Probleme des Menschenlebens behandelt,” so erfaßt er ihre kunstphilosophische Bedeutung und stellt eine These auf, die erst in jüngster Zeit von Bruch und Pongs durchgefochten wurde, von Bruch als Analytiker der absoluten, von der Einzelerscheinung losgelösten Form, von Pongs als Synthetiker, der die Kausalität im Schaffen des Dichters gleichzeitig mit den Forderungen der formalen Werte sieht.