Der brilliante Ideenreichtum dieses unscheinbaren, aber tiefgründigen Buches von David Wellbery kann in einer kurzen Besprechung wie dieser nur ungenügend wiedergegeben werden. Ich beschränke mich deshalb im folgenden auf die Darstellung einiger zentraler Gedanken textkritischer als auch disziplinärmethodologischer Natur. Die beste Auskunft hingeben gibt das Buch selber. Die Lektüre lohnt sich.
Bereits auf der ersten Seite wird die Prämisse der Studie deutlich formuliert: “Vorausgesetzt wird ein genetisch-dynamisch konzipierter Gattungsbegriff,” schreibt Wellbery, denn “Gattungstheorie ist nicht Gestaltenlehre, sondern Verwandlungslehre.” Damit ist in der Tat der methodologische Rahmen abgesteckt und das Ziel der Untersuchung formuliert: es geht nicht allein um eine Interpretation von Faust I, sondern um den weitaus anspruchsvolleren und textübergreifenden Versuch, mittels des Goetheschen Textes die historischen Erscheinungsformen der Tragödie insgesamt und ihr Bedeutungspotential als lite rarische Gattung zu bestimmen. Die Kernfrage lautet nicht: Warum ist Faust I eine Trägodie? sondern: Wie und mit welchen Mitteln musste Goethe die traditionelle Gestalt der Tragödie verändern, um Faust I als Tragödie schreiben zu können? Die erste Frage setzt einen statischen, die zweite hingegen einen dynamisch- adaptiven Gattungsbegriff voraus, und nur dieser, nicht jener, ermöglicht es der Literaturwissenschaft, das wandelbare Sinn- und Bedeutungspotential lite rarischer Texte und Formen epochenübergreifend zu erfassen und zu bewerten.
Wellberys Prämisse eines historisch wandelbaren, also evolutionären, Gattungsbegriffs der Tragödie erlaubt ihm eine Fülle neuer, intertextueller Bezüge zwischen Faust I und anderen Werken der Weltliteratur aufzuweisen, die bisher in der Forschungsliteratur nicht oder nur ungenügend berücksichtigt wurden. So stellt er gleich zu Beginn die These auf, daß Goethe sich direkt von Sophokles’ Oedipus Tyrannus leiten und inspirieren ließ, um seine eigene Tragödie in Szene zu setzen. Der detaillierte Vergleich der Szene “Vor dem Tor”—laut Wellbery die “Eröffnungszene” von Faust I, weil Mephisto hier zum ersten mal auftaucht und die tragische Handlung (samt Wette und Gretchentragödie) erst hier ihren Anfang findet—und der Eingangszene von Sophokles’ Drama bringt nicht nur eine Reihe formaler und inhaltlicher Parallelen beider Dramen zum Vorschein (Ort der Handlung, Szenenaufbau, Dialogstruktur, etc).