I
Zu dem historischen Erbe, das die Sowjetmacht im Jahre 1917 antrat und mit dem sie sich auseinanderzusetzen hatte, gehörte nicht zuletzt das ungelöste Nationalitätenproblem — in rückschauender Perspektive sicherlich eines der säkularen Probleme der russischen und sowjetischen Gesellschaft. Die bolschewistische Partei hat es bei der Entwicklung ihrer Programmatik stets reflektiert, und Lenin verfügte im Gegensatz zu Marx und Engels über ein vergleichsweise feines Sensorium für die politische Bedeutung der Nationalitätenfrage. Vor dem Hintergrund der späteren Erfahrungen (vor allem im 2. Weltkrieg) erscheint die Entwicklung der sowjetischen Nationalitäten in den 20er Jahren als eine Periode der nationalen Konsolidierung: Die Politik der Bolschewiki setzte hier Kräfte frei, die lange Zeit unterdrückt waren und nun eine enorme Dynamik entfalteten. Die Mobilisierung der sowjetischen Nationalitäten verlief dabei übrigens weitgehend parallel zur allgemeinen Bildungs- und Kulturpolitik. Der zügige Aufbau des Bildungswesens, die Verbreitung der Kulturtechniken und der Medien etc. hatte allerdings mehr noch als im eigentlichen Russland neben der sozialen Mobilisierungsfunktion eine national-kompensatorische Bedeutung. Dieser Nebeneffekt war keineswegs erwünscht und die immer stärkere funktionale Ausrichtung der Bildungspolitik auf das Industrialisierungsprogramm machte sie zunehmend zu einer als eher hinderlich empfundenen Begleiterscheinung. In den 30er Jahren dienten die ehemaligen “Randgebiete” des zaristischen Russland vornehmlich als Rohstofflieferanten einer zügig aufgebauten Industrie im europäischen Teil der Sowjetunion.