1. Fragen an den Text und seine Interpretation
Der vorliegende Beitrag führt in das Jerusalem der frühen dreißiger Jahre des ersten Jahrhunderts – freilich so, wie es sich Markus wohl kurz nach 70 n.Chr. vorstellt.Footnote 1 Nach Darstellung des Markus (par. Lukas: 21,1–4) hält Jesus sich im Zentrum der pulsierenden Stadt, genauer: im herodianischen Tempelbereich auf.Footnote 2 Hier beobachtet er, wohl im Vorhof (s.u.) sitzend, das umhergehende „Volk“, das im Tempel Geld einlegt – dort sind Frauen und Männer unterwegs. Es herrscht, kurz vor den Pascha-Festlichkeiten (Mk 14,1), anscheinend reger Betrieb. Auch eine – aufgrund von Kleidung, Aussehen oder Auftreten – als „arm“ bezeichnete Witwe ist unter denen, die an Jesus vorbeigehen. Sie legt einen geringen Betrag ein, zwei kleine Kupfermünzen, und zieht damit die ganze Aufmerksamkeit Jesu auf sich. Jesus ruft seine offenbar auf dem Tempelareal verstreuten Jünger zusammen und nimmt seine Wahrnehmung der armen Witwe zum Anlass einer Jüngerbelehrung:
Amen, ich sage Euch: Diese arme Witwe hat mehr eingeworfen als alle … Alle nämlich haben aus dem, was für sie Überfluss ist, eingeworfen, diese aber hat aus ihrer Bedürftigkeit heraus alles, was sie hatte, eingeworfen – ihren ganzen Lebensunterhalt. (Mk 12,43b–44)
Die Witwe, die selbst keine Jesus-Anhängerin ist, wird so in der Jüngerbelehrung zu einem Beispiel für diejenigen, die in der Nachfolge stehen. Was aber sollen oder können die Jesus-Jünger am Beispiel der Witwe lernen? Das ist die Leitfrage dieses Beitrags, der darauf zielen wird, das Motiv der Witwe vor dem Hintergrund der vorderorientalischen Sozialgeschichte näher zu beleuchten.Footnote 3 Diese Deutungslinie baut gleichwohl auf einer breiteren exegetischen Betrachtung der markinischen Perikope und ihrer Auslegungsgeschichte auf.
So führt das Nachdenken über die „arme Witwe“, wie in der Markusinterpretation mehrfach herausgestellt wurde, zugleich in ein wichtiges Gebiet der Frauen-Forschung.Footnote 4 Und doch wurde Mk 12,41–4, obwohl der Text sogar im mittelalterlichen Pilgerwesen eine nicht unerhebliche Rolle spielte,Footnote 5 auffallend selten näher interpretiert, wie noch Addison G. Wright beklagt.Footnote 6 Das gilt bis auf die schon erwähnten Aspekte der Frauenforschung und numismatische Fragen zur Identifizierung der Kupfermünze (λεπτόν, κοδράντης: Mk 12,42) im syro-palästinischen Raum.Footnote 7 Das Thema der „armen Witwe“ selbst dagegen wirkte oft entweder zu einfach oder zu sperrig: Denn einerseits scheint die kurze Erzählung – so Gerd Theißen – „unmittelbar verständlich zu sein“.Footnote 8 Doch andererseits bleibt „vieles rätselhaft“, so Dieter Lührmann.Footnote 9 Die Interpretation des Textes ist von Wright, der die jüngere Forschungsdiskussion 1982 angestoßen hatte, bis zuletzt Markus Lau (2016) mit vier Grundfragen befasst, die ich eingangs kurz benenne.Footnote 10
Erstens: mit der Betrachtung des literarischen Kontexts. Die Platzierung der Perikope im textlichen Zusammenhang von Mk 12–13 bleibt für viele Exegeten ein Rätsel. Warum wählt Markus die Szene einer geldeinlegenden Witwe, um das öffentliche Wirken Jesu in Jerusalem (Mk 11–12) zum Abschluss zu bringen und zur Endzeitrede überzuleiten? Am Schluss einer Serie von Streitgesprächen und im direkten Übergang zu Mk 13 wirkt der kurze Textabschnitt über die „arme Witwe“ wie ein zufälliges Anhängsel zu Tempel-Szenen – die Erzählung scheint deplatziert. Wright und Struthers Malbon haben – zu Recht – in dieser Diskussion angeregt, den unmittelbaren Kontext, also den Mikrokontext (Mk 12,38–40; 13,1–2),Footnote 11 und die Gesamterzählung des MarkusevangeliumsFootnote 12 bei der Textinterpretation nicht nur zur Hilfe zu nehmen, sondern als vielseitigen Deutungshorizont zu nutzen. Demnach ist die Szene über die „arme Witwe“ nicht nur im Übergang von Jesu harscher Kritik an den Schriftgelehrten und der folgenden Ankündigung der Tempelzerstörung wohl platziert, sondern erlaubt im Gesamtbauplan des Evangeliums vielerlei Verknüpfungen.
Zweitens: Im Sinne der redaktionsgeschichtlichen Verortung von Mk 11–13 im Rahmen der Evangelienschrift als ganzer wird der vorliegende Textabschnitt in der jüngsten Markusforschung verstärkt im Lichte der zeitgeschichtlichen Umstände um 70 n.Chr. gesehen.Footnote 13 So bezeichnet Udo Schnelle die Evangelienschreibung als Beitrag zur „innovative(n) Krisenbewältigung“.Footnote 14 Die zeitgeschichtliche Perspektive auf Markus ist notwendig. Unklar aber bleibt, wie sich Schnelle die Krisenbewältigung vorstellt und was genau eine Perikope wie die über die „arme Witwe“ der dreißiger Jahre mit den Wirren des jüdisch-römischen Krieges und der Zerstörung des Tempels 70 n.Chr., auf die das Markusevangelium augenscheinlich zurückblickt, zu tun hat. Wir kommen darauf zurück.
Der dritte Fragenkomplex betrifft seit Bultmann die form- und überlieferungsgeschichtliche Analyse von Mk 12,41–4: Ist der Textabschnitt vormarkinisch? Kann die Szene sogar auf den historischen Jesus zurückgeführt werden? Lührmann, Adela Yarbro Collins und die Mehrzahl der Exegeten gehen davon aus, dass Markus die Perikope nicht „selbst geschaffen“, sondern der Tradition entnommen habe.Footnote 15 Dafür spricht u.a. die formale Gestalt der Szene, die mit einem „Amen“-Wort Jesu schließt, wie wir es ja auch aus anderen emphatischen Sprechzusammenhängen im Markusevangelium kennen (Mk 3,28; 8,12; 9,1.41; 10,15.29; 11,23). Es handelt sich dabei um Sprechzusammenhänge, die entweder einen prophetischen Spruch oder ein Wort zur Jüngerunterweisung einleiten.Footnote 16 Auch wenn die vormarkinische Form der Überlieferung nur „schwer zu bestimmen“ istFootnote 17 und – je nach exegetischer Perspektive – in den Formenbereich einer historisierten Anekdote,Footnote 18 einer „ideale(n) Szene“Footnote 19 oder Parabel gehört (vgl. auch Lk 18,9–14),Footnote 20 gilt doch das „Amen“-Wort Jesu in V. 43b–44 gemeinhin als ältester Kern der Tradition. Bei dieser Beschreibung wirkt Bultmanns formgeschichtliche Analyse der Texteinheit als (biographisches) Apophthegma erkennbar nach.Footnote 21
Die Tradition, die Mk 12,41–4 zugrunde liegt, war wohl in Jerusalem beheimatet. In ihrer weiteren Überlieferungsgeschichte mag sie die frühchristliche Motivik der Gabenbereitschaft, wie sie auch in 2 Kor 8 durchscheint (bes. Vv. 2–3.11ff.), aufgenommen haben.Footnote 22 Es ist nicht auszuschließen, dass die Überlieferung in Mk 12,41–4 auf das Jerusalemer Wirken des historischen Jesus zurückgeführt werden kann: Sie könnte im Zusammenhang der Tempelkritik stehen, die Jesus in der sog. Tempelreinigungsszene (Mk 11,15–17) zum Ausdruck bringt.Footnote 23 Dort nimmt Jesus, wenn er die Tische der Geldwechsler umstößt, an der gerade vor den großen religiösen Festen boomenden Geldwirtschaft,Footnote 24 vielleicht auch an der Opferpraxis des TempelbetriebsFootnote 25 Anstoß. Im Mikrokontext von Mk 12–13 ist diese Anbindung an Jerusalemer Tempelszenen noch erkennbar.
Eine sachlich benachbarte Grundfrage der Textinterpretation hängt viertens an der realhistorischen Bestimmung dessen, was die Witwe mit ihrem Geld tut, wenn sie es in ein γαζοϕυλάκιον einlegt: Worum geht es in der Geschichte? Und in welcher Weise kann die arme Witwe der dreißiger Jahre mit ihrem Auftreten und/oder Handeln zu einem Lehrbeispiel werden, das Markus seinen Lesern noch vierzig Jahre später vor Augen führt? Gewöhnlich ging die Markusexegese davon aus, dass die Witwe eine „Gabe“ einlegt, also entweder Geld im Sinne von Almosen spendet oder aber, wie Hermann L. Strack und Paul Billerbeck meinen, ein religiöses Opfer für den Tempelbetrieb darbringt. Eine vergleichbare Szene wird im Midrasch Leviticus Rabba 3 [107a] erzählt:
Einmal brachte eine Frau eine Handvoll Mehl (als Opfergabe). Der Priester verachtete es und sprach: Seht, was diese darbringen! Was davon soll man essen (bleibt den Priestern als Anteil), und was davon soll man opfern? Da sah der Priester im Traum: Verachte sie nicht; denn sie ist wie eine, die ihr Leben (נפשה sich selbst) dargebracht hat.Footnote 26
Die Witwe in Mk 12 wäre – als Spenderin von Almosen oder eines religiösen Opfers – eine außergewöhnliche Wohltäterin oder Fromme, die trotz oder wegen ihrer bescheidenen Mittel in ihrer Spendenbereitschaft vorbildhaft ist. So würde dann auch dem späteren Leser – wie Theißen meint – im Kontext des antiken Gaben- und Spendendiskurses (vgl. Xenophon, Mem 1,2,3)Footnote 27 das urchristliche Ethos der Umwertung aller Werte exemplifiziert: Die geringe Gabe einer armen Witwe wiegt in den Augen Jesu mehr als die Almosen oder Opfer der Reichen und Angesehenen.
Eine solche Deutung ist jedoch in zweifacher Hinsicht problematisch. Zum einen kommt der „armen Witwe“ keinerlei exemplarische oder paradigmatische Rolle im Blick auf die Handlung der Geldgabe zu: „there is no invitation in the text to imitate the widow“.Footnote 28 Und zum anderen ist im Markustext von einer „Spende“ – sei es in Form einer Gabe oder eines religiösen Opfers – nichts zu lesen. Davon spricht erst Lukas in seiner Adaption des markinischen Textes, wenn er beschreibt, wie diejenigen, die Geld einlegen, „Gaben“ (δῶρα/δῶρον) in das γαζοϕυλάκιον einlegen (Lk 21,1.4).Footnote 29 Markus- und Lukaskommentatoren übersehen diese Differenz zwischen beiden Texten übrigens gern!Footnote 30
Zuletzt hat Markus Lau die Diskussion darüber, was genau die „arme Witwe“ da tut, auf die Frage nach der Wortbedeutung von γαζοϕυλάκιον zugespitzt. Er fragt zu Recht, ob es in Mk 12 überhaupt um Spendenbereitschaft gehe und nicht vielmehr um die Spareinlage eines, wenn auch sehr bescheidenen Vermögens in die Tempelbank. Lau geht von der (allgemein-griechischen) Wortbedeutung des γαζοϕυλάκιον in der Septuaginta (s. bes. Neh 3,30; 10,37/8–9; 12,44; 13,4ff.; Esr 3,9), hier besonders in 2 Makk 3,6ff. (vgl. auch 4 Makk 4,3) und bei Josephus (B.J. 6,282; 5,200) aus, wenn er vorschlägt, den Begriff γαζοϕυλάκιον als eine Art „Tempelbankdepot“ zu verstehen, zu dem man „seine Besitztümer zur sicheren Einlage bringen“ konnte.Footnote 31 Und tatsächlich belegt 2 Makk 3,10, dass in der Tempelbank auch das Geld der Witwen und Waisen verwahrt war.
Diese Textdeutung ist nicht ganz neu,Footnote 32 aber folgenschwer. Denn ihr zufolge erzählt die markinische Perikope nicht mehr ein „positives Exemplum“ über die vorbildhafte Spenden- oder Opferbereitschaft einer armen Witwe,Footnote 33 sondern entwickelt einen „negativen Zug“: Die Witwe, die in der Tempelbank ihr bescheidenes Vermögen einlegt, erscheint als Opfer „der Ausbeutungsstrategien des Tempels im Rahmen einer patriarchal organisierten Welt“.Footnote 34 Und tatsächlich hatte Jesus ja in den Versen (Mk 12,38–40), die dem Textabschnitt unmittelbar vorausgehen, eine ebensolche harsche Kritik an den Schriftgelehrten vorgebracht, weil diese die Witwen um ihr ganzes Vermögen brächten.
Doch Laus Interpretation ist schon deswegen nicht zwingend,Footnote 35 als sich laut Josephus (B.J. 5,200; 6,282; A.J. 19,294)Footnote 36 die Schatzkammern nahe den Säulenhallen im inneren Hof, der nicht allgemein zugänglich war, befanden. Im Frauenhof dagegen, in dem sich die Witwe ja nur aufgehalten haben kann, standen wohl die dreizehn Opferboxen (vgl. mSheq 6,1ff.), in die verschiedene Spenden – für religiöse Opfer, Almosen oder zum Erhalt des Tempelbetriebs – eingelegt werden konnten. Könnte die Witwe dort überhaupt eine Spareinlage abgegeben haben? Joel Marcus vermeidet eine realhistorische Deutung. Er geht schlicht davon aus, dass die Rahmenszene in Mk 12,41 „one of many unrealistic features in our narrative“ bietet.Footnote 37 Mir dagegen scheint, dass Markus im Unterschied zu Lukas und anders als es in Mk 7,11 der Fall ist, wo Markus κoρβᾶν explizit als δῶρον versteht, letztlich offenlässt, für welchen Zweck genau die Witwe Geld einlegt:Footnote 38 als Opfergabe, Almosen oder Spareinlage.Footnote 39 Anders als Lukas ist Markus offenbar am genauen Zweck der Geldeinlage der Witwe und folglich an deren Handlung als solcher – anders als es in Mk 14,9 der Fall ist – nicht primär interessiert. Die Frage also bleibt: Was ist an der „armen Witwe“ nach Mk 12 interessant, und was soll ihr Beispiel die Jünger lehren?
In meiner Analyse von Mk 12,41–4 werde ich einen Fokus wählen, der, wie der kurze Durchgang durch die Forschungsgeschichte erkennen lässt, bisher deutlich unterbelichtet war: nämlich die Betrachtung der „armen Witwe“ selbst. Meine These ist, dass die Analyse dieser Protagonistin in ihrem sozialgeschichtlichen Kontext und im Blick auf ihre narrative Funktion einige Fragen deutlicher klären kann, die die form-, redaktions- und realgeschichtliche Betrachtung bis hierher aufgeworfen hat.
2. Mk 12,41–4par. im literarischen, literatur- und sozialgeschichtlichen Kontext
Noch einmal zurück zum Text und zur Übersetzung von Mk 12,41–4:
41 Und als er [ = Jesus] gegenüber dem γαζοϕυλάκιον saß, sah er, wie das Volk Kleingeld in das γαζοϕυλάκιον warf. Und viele Reiche warfen viel (Kleingeld hinein).
42 Und es kam eine arme Witwe und warf zwei kleine Kupfermünzen (hinein), was einem Quadrans entspricht.
43 Und er [ = Jesus] rief seine Jünger zusammen und sagte ihnen: „Amen, ich sage Euch: Diese arme Witwe hat mehr eingeworfen als alle die, die in das γαζοϕυλάκιον eingeworfen haben.
44 Alle nämlich haben aus dem, was für sie Überfluss ist, eingeworfen, diese aber hat aus ihrer Bedürftigkeit heraus alles, was sie hatte, eingeworfen – ihr ganzes Leben/ihren ganzen Lebensunterhalt.“Footnote 40
Das Syntagma der „armen Witwe“ (χήρα πτωχή) begegnet sowohl in der kurzen narrativen Einleitung der Szene (Mk 12,42) als auch im „Amen“-Wort Jesu (Mk 12,43). Es ist also für das Verstehen der Szene konstitutiv und fungiert nicht einfach als „catchword“ zum vorhergehenden Text in Mk 12,38–40.Footnote 41 Die Frage, die sich bei der Interpretation stellt, ist daher: Wer ist diese Frau, und warum schließt Markus das öffentliche Wirken Jesu in Jerusalem mit der Beobachtung und Deutung einer „armen Witwe“? In einem ersten Schritt betrachte ich noch einmal den Kontext, in einem zweiten Schritt untersuche ich die Erzählfunktion von Frauen im Markusevangelium, bevor ich in einem dritten Schritt Witwen sozial- und motivgeschichtlich in den Blick nehme.
2.1 Kontextanalyse
Die Episode in Mk 12,41–4 spielt in Jerusalem, wo sich Jesus nach der Erzählung des Markus seit seinem triumphalen Einzug in die Stadt (Mk 11,1–11) aufhält. Trotz aller Hosanna-Akklamationen zeigt Jesus von Beginn seines Jerusalemer Wirkens an eine massive tempelkritische Haltung. Diese kommt in der sog. Tempelreinigungsszene am deutlichsten zum Ausdruck (Mk 11,15–18) und wird später in der Ankündigung der Tempelzerstörung (Mk 13,2) prophetisch-eschatologisch gesteigert. In Kapitel 11–13 erweist sich Markus auch in Details als sorgfältiger Erzähler: Nach seiner Darstellung wohnt Jesus während seines gesamten Aufenthaltes nicht direkt in, sondern vor der Stadt und betritt sie immer wieder neu – von Betphage und Betanien aus (Mk 11,1.11.12; 11,11.15.27). Die heftige Tempelkritik des markinischen Jesus geht also mit einer deutlichen Distanz Jesu zu Jerusalem einher: Die Verfluchung des Feigenbaums in Mk 11 wird dabei zum eindrücklichen Zeichen – zu einem „negativen Wunder“.
In einer Reihe von Streitgesprächen, die in Mk 11,27 einsetzen, gerät Jesus im Folgenden in permanente polemische Auseinandersetzungen mit den jüdischen Autoritäten und Schriftgelehrten.Footnote 42 Zur Diskussion stehen dabei die Vollmacht Jesu (Mk 11,27–31), die Steuerfrage (Mk 12,13–17), die Auferstehung (Mk 12,18–27), das höchste Gebot (Mk 12,28–34) und die Davidssohnschaft (Mk 12,35–7). In diesen Gesprächen geht es nicht nur um Sachfragen und die rechte Auslegung der Schrift, sondern immer auch um die Autorität Jesu in Jerusalem. So wird das Gleichnis über die untreuen Arbeiter im Weinberg (Mk 12,1–11), das die Gesprächsszenen kurzfristig unterbricht, zur maximalen Provokation, weil die Gegner Jesu erkennen, dass sie selbst mit jenen bösen Pächtern des Weinbergs gemeint sind (Mk 12,12), die die Stadt veruntreuen und ausrauben. Anders, als Jesus es im Gleichnis beschreibt (Mk 12,8), können die „bösen Weingärtner“ dem Sohn Gottes jedoch nichts antun – denn noch ist das Volk auf seiner Seite (Mk 12,12.38). So halten die von den Gegnern Jesu initiierten Streitgespräche in unverminderter Schärfe an (Mk 12,13–37a), während das ganze Volk Jesus „gerne hört“ (Mk 12,37b).Footnote 43
In Mk 12,38–40 wandelt sich der öffentliche Redegestus Jesu: Wie im Gleichnis über die bösen Weingärtner zuvor spricht Jesus nunmehr auf eigene Initiative (vgl. Mk 12,1 und 12,38) – also nicht auf die Anfrage möglicher Gegner hin (noch Mk 12,35). Sprach Jesus im Gleichnis noch verschlüsselt, ἐν παραβολαῖς, so spricht er nun in unverschlüsselter Form, ἐν τῇ διδαχῇ. Entsprechend direkt kündigt Jesus seinen Gegnern nun ihr „Gericht“ (κρίμα) an. Dieses Gericht wird noch im Gleichnis in verschlüsselter Form als künftige Zerstörung (Mk 12,9: ἀπολέσει) der Stadt Jerusalem durch Gott als den Weinbergbesitzer vor Augen gestellt.Footnote 44
In Mk 12,41 – dem eigentlichen Untersuchungsgegenstand dieses Beitrages – wandelt sich Jesu Rolle ein weiteres Mal: Jesus spricht zunächst nicht, sondern verhält sich als sitzender Beobachter (so auch Mk 13,3). Obwohl Jesus sich noch im öffentlichen Raum befindet – im Tempelareal –, richtet sich seine Belehrung nun nicht mehr an die jüdischen Autoritäten oder das Volk, sondern nur noch an seine Jünger (Mk 12,43–4; ähnlich auch Lk 20,45).Footnote 45 In Kapitel 13 wird Jesus dann gänzlich den öffentlichen Raum verlassen und im Wort von der Tempelzerstörung (Mk 13,2) auf eine einzelne Jüngerfrage antworten. Die anschließende endzeitliche Rede (Mk 13,3ff.) engt den Kreis der Zuhörer ein weiteres Mal ein: sie schließt die Öffentlichkeit programmatisch aus (κατ’ ἰδίαν) und richtet sich in esoterischer Form nur noch an den engsten Jüngerkreis (Mk 13,3).
Im Aufriss der Kapitelfolge 11–13 hat die kleine Episode von der armen Witwe im Markusevangelium eine entscheidende narrative Funktion. Inmitten einer langen Erzählsequenz über die tempel- und jerusalemkritische Haltung Jesu bereitet unsere Perikope in ihrer eigenen literarischen Form Jesu graduellen Rückzug aus der Öffentlichkeit vor: Der öffentliche Lehrer richtet sich bei seiner Beobachtung einer „armen Witwe“ nunmehr nur noch an seine Jünger, bevor er als Privatlehrer (Mk 13) spricht und dann – im Zuge der Passionsereignisse (Mk 14–15) – gänzlich schweigen (Mk 14,61; 15,5) und zum Schweigen gebracht werden wird (Mk 15,37).
2.2 „Frauen“ und ihre Erzählfunktion
Die Episode von der „armen Witwe“ ist auch makro-kontextuell wohl platziert. Markus fügt in seinem Evangelium immer wieder Erzählungen über Frauen an sogenannten narrativen Höhe- oder Wendepunkten ein: In Mk 5,21–43 begegnen Frauen als Erbittende und Empfängerinnen von Heilungen, in Mk 7,24–30 bewirkt die Syrophönizierin im Streit mit Jesus sogar dessen Umdenken; in Mk 14,3–9 agiert die namenlose Frau in Betanien, die Jesus salbt, als vorbildhaft Handelnde, ja nahezu als prophetische Gestalt; in Mk 16,1–8 ergeht die Botschaft vom leeren Grab an Jüngerinnen. Gerade im Verlauf der Passionsgeschichte beweisen die Frauen Treue und Durchhaltevermögen, während die männlichen Protagonisten – allen voran Judas und Petrus, ja sogar der Jüngling, der sein Gewand verliert und nackt flieht (Mk 14,51–2) – weitgehend versagen.Footnote 46 Wie kommt Markus dazu, Frauen zu positiven exempla zu machen? Und welche Rolle kommt der „armen Witwe“ in Mk 12 zu – wird sie zum Vorbild für die „Bereitschaft des Menschensohns zur Lebenshingabe“?Footnote 47
Mein Deutungsvorschlag geht in eine andere Richtung. Er setzt bei den übergreifenden sozial- und literaturgeschichtlichen Beobachtungen an, die Tal Ilan zur Erklärung des Status von Frauen im Rahmen der frühjüdischen Welt formuliert hat. Ilan spricht davon, wie sich die fragmentierte jüdische Gesellschaft in der sog. „Second Temple Period“ auf den Status von Frauen ausgewirkt hat: „Sects by their very nature are more egalitarian than established society and more readily welcome women's participation.“Footnote 48 Dazu dürften sicher auch die Jesus-Bewegung und das früheste Christentum zählen. Ilan stellt heraus, wie in Israel – schon seit der persischen Zeit – gern und oft von Heldinnen erzählt wird. Bei diesen Erzählungen werden gattungsgeschichtliche Besonderheiten erkennbar: Während in der Weisheitsliteratur misogyne Haltungen, die das gesellschaftlich dominierende patriarchale Ethos spiegeln, tendenziell überwiegen, ermöglichen erzählende Texte – besonders Novellen als Formen fiktiver Literatur (z.B. Rut, Ester, Judit) – die Infragestellung eines gesellschaftlichen Konsenses. So werden in Erzählungen oder Erzählverläufen mit weiblichen Protagonisten überraschende Wendepunkte möglich,Footnote 49 die durchaus auch ambivalent sein können: Die markinischen Erzählungen über die Tochter der Herodias, die ja letztlich die Enthauptung des Täufers verursacht (Mk 6,17–29), oder die drei Frauen am Ostermorgen, die die Botschaft vom leeren Grab aus Furcht verschweigen (Mk 16,8), gehören zu solchen ambivalenten weiblichen Protagonistinnen.
2.3 Die sozialgeschichtliche Stellung von Witwen in der vorderorientalischen Welt
Wir können bei der Interpretation des Witwen-Motivs in Mk 12 nicht allein von der narrativen Funktion weiblicher Erzählfiguren im Markusevangelium ausgehen, sondern müssen hier noch einen Schritt weitergehen und das soziale und kulturelle Profil der – zumeist namenlosen – Frauen bei Markus zu erheben suchen: Da begegnen neben der Schwiegermutter des Petrus (Mk 1,29–31), die im Zentrum der ersten Krankenheilung steht, namenlose und sozio-kulturell inferiore Gestalten in Mk 5–7: Die sog. blutflüssige Frau ist schon aus rituellen Gründen sozial ausgegrenzt (Mk 5,25–34); die Tochter des Jairus, die Jesus wiederbelebt, kann sich zwar auf die Fürsprache ihres Vaters, eines Synagogenvorstehers, verlassen (Mk 5,21ff.), gehört aber als Kind trotzdem zu den schwächsten Gliedern der Gesellschaft; die syrophönizische Frau (Mk 7,24ff.), die Jesus als Exorzisten aktiv anspricht und um die Heilung ihrer besessenen Tochter bittet, ist, wie Jesus selbst es ihr unzweideutig zu verstehen gibt, eine Outsiderin in der jüdischen Welt; die namenlose Frau in Betanien (Mk 14,3–9), die Jesus mit kostbarem Nardenöl salbt, wird letztlich wegen ihrer großzügigen Geste von ihren Zeitgenossen abgewiesen. Allen diesen Frauen spricht Jesus Anerkennung zu. Die Frau in Betanien macht er sogar zum exemplum für die zukünftige weltweite Verkündigung des Evangeliums (Mk 14,9).
Wie passt nun die „arme Witwe“ in das Bild, das Markus von Jesu Umgang mit Frauen zeichnet? Wie all die anderen Frauen in Mk 1–14 bleibt auch diese Frau namen- und gewissermaßen gesichtslos. Und doch können wir vor dem Hintergrund dessen, was wir über den sozialgeschichtlichen Status von Witwen in der vorderorientalischen Welt wissen, eine Art Phantombild zu erstellen versuchen. Pnina Galpaz-Feller, Annette Schellenberg und Marten Stol geben zuletzt vielfältige Einblicke in die Alltagswelt der Witwen im antiken Nahen und Mittleren Osten.Footnote 50 Was lässt sich auf dieser Grundlage über die „arme Witwe“ in Markus 12 in Erfahrung bringen?
Wir wissen nichts Konkretes über das Alter oder Aussehen der Frau oder über ihre Familiengeschichte. Jesus hat sie aber offenbar als Witwe (χήρα) an ihrer Witwenkleidung (vgl. Gen 38,14.19; Jdt 8,5) identifiziert. Offensichtlich kann die Frau in einem gewissen Umfang für sich selbst sorgen, denn sie hat ja eigenes Geld, wenn auch nur in einer äußerst geringen Summe, zur Verfügung. Ihre Lebensumstände werden trotzdem prekär und leidvoll (Apk 18,7) sein. Schon in der babylonischen Gebetsprache begegnet das im Alten Orient verbreitete Motiv der „armen Witwe“.Footnote 51 Nicht umsonst macht die in der antiken Welt allgemein gestellte FrageFootnote 52 nach der möglichen Lebensform der Witwen und der für sie nötigen Fürsorge, die sowohl im frühen JudentumFootnote 53 als auch in der frühen römischen Kaiserzeit zur wachsenden Forderung der Wiederverheiratung führte,Footnote 54 einen Großteil des sozialen Engagements in den frühchristlichen Gemeinden aus (vgl. auch Eusebius, Hist. eccl. 6,43,11), und zwar in Jerusalem (Lk 2,37; 7,12; 18,3.5; Apg 6,1; 9,39) und weit darüber hinaus in den paulinischen (vgl. 1 Kor 7,8; 1 Tim 5)Footnote 55 und nichtpaulinischen (Jak 1,27) Gemeinden.
Auch wenn die Bibel „die wohlhabende und angesehene“ Witwe kennt (Jdt 8,4.7),Footnote 56 ist in alttestamentlicher Zeit die Rede von Witwen (und Waisen) in literarischen und archäologischen Quellen ein Metonym für die Bezeichnung Schwacher und Schutzbedürftiger. Als solches begegnet es auch auf einem 2008 gefundenen Ostrakon, das wohl aus dem 10. Jh. v. Chr. stammt und in Khirbet Qeiyafa, 30 km südwestlich von Jerusalem gefunden wurde.Footnote 57 In der Textrekonstruktion wird die Nennung von „Witwen“ (ואלמן) dargelegt.Footnote 58 Als schwaches Glied der Gesellschaft verdienen Witwen Verteidigung und besondere Fürsorge. Ihnen diese Fürsorge zu gewähren und ihnen zu ihrem Recht zu verhelfen, ist als Ausübung von GerechtigkeitFootnote 59 nicht nur Pflicht, sondern auch ein Privileg der Herrschenden und Mächtigen – es ist nicht zuletzt die Aufgabe Gottes (Spr 23,10–11; Ps 68,6; 146,9; Jer 49,11), eines Königs oder auch des weisen Mannes (Hiob 29,12–13).Footnote 60
Schellenberg weist darauf hin, dass die alttestamentliche Rede von Witwen (und Waisen) als personae miserae Footnote 61 in verschiedenen literarischen Genres zu unterschiedlichen Gewichtungen und Akzentuierungen führt: Während in der Weisheitsliteratur „das Leiden von Witwen und Waisen … mit der Abwesenheit Gottes in Zusammenhang gebracht“ werden kann (vgl. Ps 78,60–1.64; Hiob 24,3–21), hebt die prophetische Literatur hervor, dass die Könige und Volksführer die Verpflichtung zur Ausübung von Recht und Gerechtigkeit haben (Jes 1,23; 10,2; Ez 22,7), und klagt an, wenn ebendieses Recht der Armen und Schwachen nicht geachtet, sondern gebeugt wird (Jer 5,28; 22,3).Footnote 62
Die leidvolle Situation der Witwen kann zugleich eine Metapher für den elenden Zustand des Zion in Jerusalem als eines verlassenen Ortes (Klgl 5,2–3) sein.Footnote 63 Da in der Antike Städte oftmals als Frauen beschrieben wurden – eine Beschreibungsform, die sich auch in vielfältigen Stadtpersonifikationen niederschlägt –,Footnote 64 dient die „Witwen-Metapher“ häufig als Ausdruck der Gott-Verlassenheit (Klgl 1,1; Bar 4,12.16; Jer 47,8–9; 51,5) einer Stadt oder auch des besonderen Gottes-Erbarmens (Hos 14,4; Jer 54,4), das sie erfährt.Footnote 65
Im frühen Judentum wird daher das rechtschaffene Eintreten für die Belange der Witwen (und Waisen) vielfach thematisiert. Die Fürsorge für die Witwen wird in unterschiedlichen literarischen Kontexten unterschiedlich stark gewichtet (s. CD 6,16 [Jes 10,2]),Footnote 66 teils auch juridisch geregelt (vgl. Texte aus dem Wadi Murabba'at: Mur 20, 21, 30, 116).Footnote 67 Oft stehen Fragen des Sexualverhaltens im Vordergrund der Diskussion (s. 4Q269, 270, 271).Footnote 68 Witwen sollten zumeist nicht lange unverheiratet bleiben (s. auch Mk 12,28–34parr.!).Footnote 69 Auffällig ist übrigens der Umstand, dass Matthäus nicht nur unsere Perikope auslässt, sondern an der Witwen-Thematik – ganz anders als Lukas in seinem Sondergut (vielfach in Allusion zu 1 Kg 17; vgl. Lk 2,36–8; 4,25–6; 7,11–17; 18,1–8; Apg 6,1–7; 9,36–43) – insgesamt kein Interesse zeigt (s. lediglich Mt 23,14 – die Erwähnung hier aber textkritisch sekundär!).Footnote 70 Lukas hingegen greift die Witwen-Thematik insgesamt nicht nur im Rahmen sozialer bzw. materieller Diskurse (so tendenziell Lk 4,25–6; vgl. auch 21,1–4) auf,Footnote 71 sondern wertet die Witwenrolle als einen Stand. Er sieht darin zugleich eine Personifikation für das Schicksal Jerusalems im eschatologischen Horizont des Gottesgerichts (so tendenziell Lk 18,1–8).Footnote 72
Auch im Deuteronomium, wo die Witwen-und-Waisen-Thematik vergleichsweise am häufigsten begegnet, steht sie in Verbindung mit einer „Segen-und-Fluch-Theologie“: So wird der Israelit „verflucht“ und von Gott bestraft, wenn er seinen „Verpflichtungen den Fremden, Witwen und Waisen gegenüber nicht nachkommt“ (Dtn 15,9; 24,15; 27,19). Allerdings, so Schellenberg, trifft der Fluch Gottes „nicht automatisch (ein), sondern erst, wenn der Arme Gott als seinen Anwalt in Anspruch nimmt“ (Dtn 10,18).Footnote 73 Was ergibt dieser Durchgang durch die Traditionsgeschichte für die Interpretation von Mk 12?
In Mk 12,41–4 haben wir es weder mit prophetischer oder weisheitlicher Literatur zu tun, noch steht der Textabschnitt in einem erkennbaren Zusammenhang zum Deuteronomium. Auch werden in Mk 12,41–4 nicht Witwen und Waisen, sondern nur Witwen allein in den Blick genommen. Gleichwohl hilft der kurze motivgeschichtliche Exkurs dazu, die sozial- und literaturgeschichtliche Bedeutung des Witwen-Motivs in unserem Text schärfer in den Blick zu nehmen. Jesus, so wie Markus ihn darstellt, beobachtet das Handeln einer einzelnen Witwe als einer sozial Schwachen. Ähnlich wie schon Elija sich einer Witwe annahm (1 Kg 17), schenkt auch Jesus der „armen Witwe“ gesondert Aufmerksamkeit und Anerkennung.
Im Zusammenhang mit der scharfen Kritik, die Jesus am Tempel und den Schriftgelehrten insgesamt in Mk 11–12 übt, und im Übergang zur apokalyptischen Endzeitrede in Mk 13 tut sich daneben noch ein weiterer Deutungshorizont auf: In der Wahrnehmung Jesu ist der Tempel eine Räuberhöhle (Mk 11,17), und die Schriftgelehrten „fressen die Häuser der Witwen (und Waisen)“ (Mk 12,40). Die jüdischen Autoritäten Jerusalems verhelfen nicht den Schwachen zu ihrem Recht, sondern machen es vielmehr lächerlich und beugen es. So beschwören sie das Gericht Gottes herauf. Die Witwe also steht zunächst und eigentlich pars pro toto für die (sozial) Schwachen, die personae miserae, in Israel. Als mögliche Personifikation der Stadt Jerusalem repräsentiert die Witwe zugleich das Schicksal der Verlassenheit, das auf Jerusalem zukommen wird – ein Schicksal, das, wie Markus im Kontext der Kapitel 12 und 13 in verschlüsselter und unverschlüsselter Rede, die öffentlich und privatim erfolgt, zeigt, durch das Fehlverhalten der jüdischen Autoritäten (mit)veranlasst ist.
Vor diesem Hintergrund hat Jesu Anerkennung der „armen Witwe“ drei Funktionen – und so bleibt die markinische Erzählung nicht bei der Beschreibung der Witwe (und ihrer Handlung) stehen, sondern zielt auf die Deutung, die Jesus dem Auftreten der Witwe verleiht: Der markinische Jesus übt in Jerusalem, ganz im Sinne einer jüdischen Prophetengestalt, erstens Tempel- und Sozialkritik. Indem er der armen Witwe und nicht den vielen Reichen, die am Tempel Geld einlegen, Recht und Würde zuspricht, erweist Jesus sich zweitens als wahrer und gerechter Herrscher, Königs- oder Gottessohn (s. auch Mk 12,35–7): Er verhilft der Witwe zu ihrer Anerkennung. Eine Motivparallele dazu findet sich in einem Makarismus im slavischen Henochbuch (42,9), wo es heißt:
Selig ist, wer ein gerechtes Gericht für die Waise und die Witwe richtet und jedem Gekränkten hilft.Footnote 74
Die Episode über die „arme Witwe“ steht schließlich im Zusammenhang der Zeitdeutung seit der Verfluchung des Feigenbaumes in Mk 11 (Vv. 12–14, 20–1). Im Lichte eines zweiten Henochbelegs (50,6) ist auch in Mk 12,41–4 unausgesprochen vorausgesetzt, dass die Missachtung der Witwe die Strafe Gottes heraufbeschwört.
Die Waise und die Witwe und den Fremdling betrübt nicht, damit der Zorn Gottes nicht über euch komme. (50,6)Footnote 75
Vor diesem motivgeschichtlichen Hintergrund ist Mk 12,41-44 in erster Linie kein ethischer Text, der, wie Theissen meint, sozialethisch vorbildhaftes Handeln vor Augen führtFootnote 76 – eine solche ethische Dimension klingt höchstens im lukanischen Paralleltext (Lk 21,1–4) zaghaft an (s.o.).Footnote 77 Der markinische Text erschöpft sich aber auch nicht in einer reinen Sozial- oder Tempelkritik Jesu, die allein vor dem Hintergrund der Wirren des ersten jüdisch-römischen Krieges und der Tempelzerstörung plausibel würde. Vielmehr lehrt die Episode über die „arme Witwe“ zuerst, wer Jesus im Zeichen der anbrechenden Endzeit und des Gottesgerichts über Jerusalem ist: eine Gestalt mit prophetischer Deutungshoheit, der gerechte und Recht schaffende „Lehrer“ und „Davidssohn“, der dadurch seine Hoheit zeigt, dass er der Witwe als persona misera Anerkennung und Würde verschafft.
Im Gesamtzusammenhang der Evangelienschrift wird Mk 12,41–4 daher für die Leser schließlich auch zu einem „christologischen“ Text, der ein weiteres Mal die Identität Jesu diskutiert und Antwort auf die Frage ermöglicht, die Jesus selbst seinen Jüngern gestellt hatte: „Wer sagt ihr, dass ich sei“? (Mk 8,29). Konkrete (sozial-)ethische Implikationen und Folgen sind dabei nicht aus-, sondern eingeschlossen. Wer immer – und das geht aus Mk 12,41–4 im Zusammenhang der Kapitelfolge 11–12 hervor -, wer immer das Recht der Witwen beugt, tut Unrecht und bereitet dem Gericht Gottes den Weg. Die Witwe würde dann auch das Schicksal Jerusalems als einer gottverlassenen Stadt personifizieren. Wer hingegen – wie Jesus es gegenüber seinen Jüngern tut – der Witwe Würde zuerkennt, handelt gerecht. So erweist sich Jesus in Jerusalem noch einmal als derjenige, welcher seit der Taufszene berechtigterweise den Titel: „geliebter Sohn Gottes, an dem der Vater Wohlgefallen hat“ (Mk 1,11), trägt. Nach Mk 12,41–4 also lehrt die Witwe einmal mehr, die Zeit recht zu deuten (so auch Mk 11,14; 13,23.28ff.) und zu verstehen, wer Jesus ist.