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“Alte Töne” und Volksmusik in Kompositionen Paul Hindemiths

Published online by Cambridge University Press:  14 February 2019

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Tonangebende Richtungen der Avantgarde haben aus der seit langem tiefgreifend schwelenden gesellschaftlichen Krise der Musik in diesem Jahrhundert die Konsequenz gezogen, musikalische Kunstwerke setzen zu können, die aller Konvention entrückt sind und keinen außermusikalischen Zwecken zu genügen haben. Aus frei mit dem Material umgehender Subjektivität heraus, die bereit ist — ohne das Engagement einer sozialen Selbstverpflichtung — ganz auf sich verwiesen und unter Erleiden einer zuweilen bitter quälenden Einsamkeit zu existieren, entstanden mithin Kompositionen, die ohne Rücksicht auf die nahe Mitwelt und die Realitäten ausschließlich an künstlerischen Notwendigkeiten orientiert waren. Neben der Anbiederung an die gemeine Menge mittels verbindlichen, gefälligen, von Trivialitäten und Klischees durchwirkten Werken der großen Zahl, rangen um keinen Konsensus nachsuchende, gänzlich frei sich wähnende “Schöpfer neuer Musik” um die Realisation von Tonstücken, die die Allgemeinheit brüskiert ablehnte. Paul Hindemith ist als “Bürger-schreck,” als aufrührerisches enfant terrible sowie als rücksichtslos empfundener “Neutöner” der letzt genannten Tendenz während einiger junger Jahre nachgefolgt. Mit dreistem Gestus schrieb und interpretierte er eine antiromantisch gemeinte Musik ohne Weihe, Pathos und konventionelle Schönheit. Diese frech wirkende Demonstration des Unbehagens am Etablierten wurde ihm zeitlebens nicht vergessen und mancherseits auch nicht verziehen, obwohl Hindemith sehr bald in einem Prozess von “Selbstbescheidung” (Winfried Zillig) davon abließ und gesellschaftlich wie auch künstlerisch um ein erneuertes Verhältnis des Einverständnisses bemüht war. Er ging einen Weg des “Hin und Zurück,” der ihm wieder eine Heimstatt eröffnen sollte und somit eine lebhafte Resonanz im Hier und Jetzt.

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Research Article
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Copyright © 1971 By The Board of Trustees of the University of Illinois 

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References

1 Dazu siehe W. Salmen, “Die soziale Selbstverpflichtung von Komponisten seit dem 19. Jahrhundert.”Google Scholar

2 P. Hindemith, Komponist in seiner Welt (Zürich, 1959), S. 265.Google Scholar

3 Ebd., S. 261ff.Google Scholar

4 Melos, XV (1948), 321.Google Scholar

5 Hindemith, Komponist in seiner Welt, S. 240.Google Scholar

6 W. Gurlitt in Universitas, I (1946), 196ff.Google Scholar

7 Vgl. dazu W. Salmen, Der fahrende Musiker im europäischen Mittelalter (Kassel, 1960).Google Scholar

8 Hindemith schrieb z.B. als op. 25 Nr. 2 eine “Kleine Sonate für Viola d'amore und Klavier,” 1963 führte er in Rom Monteverdis “Orfeo” mit zeitgenössischen Instrumenten auf, in Zürich musizierte er mit Studenten Werke von Perotin bis Lassus; dazu vgl. A. Rubeli, “Paul Hindemith und Zürich,” 153. Neujahrsblatt der Allgem. Musikges. Zürich, sowie die Berichte in Musical America, LXXI (1951) und LXXIII (1953).Google Scholar

9 Hindemith, Komponist in seiner Welt, S. 38.Google Scholar

10 Melos, XV (1948), 103.Google Scholar

11 J. Wolf, “Niederländische Kunst und Chormusik von Křenek und Hindemith,” Die Musikerziehung (1926), 65ff.Google Scholar

12 Abgedruckt bei F. Gennrich, Troubadours, Trouvères, Minne- und Meistergesang (Köln, 1960), S. 31.Google Scholar

13 Dazu vgl. W. Salmen, “Zur Verbreitung von Einhandflöte und Trommel im europäischen Mittelalter,” Jahrbuch des Österreichischen Volksliedwerkes, VI (1957), 154ff.Google Scholar

14 Näheres dazu siehe unten S. 110.Google Scholar

15 Erstmals veröffentlicht von J. Wolf in AfMw, I (1918–19), 10ff; vgl. dazu J. ten Bokum, De dansen van het trecento (Utrecht, 1967), S. 30ff.Google Scholar

16 Zum Vergleich siehe H. Besseler, Bourdon und Fauxbourdon (Leipzig, 1950), s. 33.Google Scholar

17 Auch der “alte Marsch” war für Hindemith ein Relikt aus Zeiten behäbiger Würde und Geradheit, weswegen er sowohl das “Konzert für Violoncello und Orchester” von 1940 als auch das “Septett für Blasinstrumente” von 1948 in kunstvoll behandelten Zitaten von betont “alten” Märschen ausklingen läßt.Google Scholar

18 Dazu siehe A. Schönberg Vorwort zu op. 28 sowie ders., “Symphonien aus Volksliedern,” in Stimmen (1947), S. 2–3; Melos, XXVI (1959), 179, wo M. Kelemen betont: “Ich bin zur Überzeugung gekommen, daß in der folkloristisch bedingten Musik eine weitere Entwicklung im Sinne einer Organisation des Materials und einer differenzierteren Faktur nicht mehr möglich ist.”Google Scholar

19 Hindemith, Komponist in seiner Welt, S. 12.Google Scholar

20 Gegen dieses Verdikt verteidigte ihn u.a. Wilhelm Furtwängler am 25. November 1934 in der Deutschen Allgemeinen Zeitung mit der Feststellung: “unermüdlich ist er hier bestrebt, auf seine Weise die verhängnisvolle Kluft zwischen Volks-und Kunstmusik produktiv zu überwinden.”Google Scholar

21 Hindemith, Komponist in seiner Welt, S. 148.Google Scholar

22 Diese Auskunft verdanke ich Herrn Dr. Alfred Rubeli in Solothurn.Google Scholar

23 A. Weissmann, “Paul Hindemith,” Die Musik, XVI (1924), 581.Google Scholar

24 S. Kind, “Mein Lehrer Paul Hindemith,” Melos, XXXII (1965), 396.Google Scholar

25 Dazu vgl. die ausführlichere Besprechung von F. Willms, “Paul Hindemith, Ein Versuch,” in Von Neuer Musik (Köln, 1925), S. 86.Google Scholar

26 Siehe dazu kritisch W. Salmen, Das Erbe des ostdeutschen Volksgesanges (Würzburg, 1956).Google Scholar

27 Zur Überlieferung dieser Melodie siehe W. Salmen, “Zur Geschichte eines mittelalterlichen geistlichen Fahrtenliedes,” Jb.f.L.u.H. (1965), 145ff. Ein weiteres Beispiel für den “Volkston” im “Mathis” bietet auf S. 71 des Klavierauszuges der Gesang von Albrecht “Ich soll sechshundert Reiter stellen.”Google Scholar

28 Z.B. im ersten Bild, Chor der Antoniterbrüder.Google Scholar

29 Klavierauszug, 1935, S. 11.Google Scholar

30 H. Strobel, Paul Hindemith (Mainz, 1948), S. 52.Google Scholar

31 H. H. Stuckenschmidt in Melos (1959), 93.Google Scholar

32 Z. B. Klavierauszug, S. 205.Google Scholar

33 Weitere Bemerkungen dazu bei W. Salmen, “Die Musik im Bildwerk Grünewalds,” Practica (1964), S. 78ff.Google Scholar

34 Melos (1959), S. 93.Google Scholar

35 H. J. Moser, “Hindemith und das altdeutsche Volkslied,” Musica, VII (1953), 504ff.Google Scholar

36 Abgedruckt bei P. Walther, “Wünsche …!” Melos, XVIII (1951), 11.Google Scholar

37 Vgl. J. Zahn, Die Melodien der deutschen evangelischen Kirchenlieder, Nr. 8619c mit dem Klavierauszug Ed. Schott 4925, S. 124–129.Google Scholar

38 Klavierauszug, S. 361ff.Google Scholar

39 Verfasser dankt dem Schott-Verlag in Mainz für die Überlassung einer Manuskriptkopie zur Einsichtnahme. Siehe dazu auch NZM, CXXI (1960), 323.Google Scholar

40 Für den Hinweis auf diese Quelle danke ich Herrn Dr. W. Suppan (Freiburg/Br.) sowie Herrn Dr. D. Yoder (Phildelphia/Pa.), der mir außerdem mitteilte, daß Hindemith Subskribent der in Lancaster/Pa. herausgegebenen Zeitschrift The Pennsylvania Dutchman gewesen ist.Google Scholar

41 A. Briner, “Hindemith's ‘Pittsburgh Symphony,”’ Melos, XXVI (1959), 254.Google Scholar

42 L. M. Hacker und B. B. Hendrick, The United States since 1865, S. 183.Google Scholar

43 In diesem Einakter bildet das Weihnachtslied “God rest you merry, gentlemen” die gleichsam umgreifende Klammer. Es bestimmt im 6/8-Takt den Anfang und in 5/8 umgeformt auch das Ende der Komposition.Google Scholar